Woran du eine großartige Stimme erkennst – und woran nicht
Was macht eine großartige Stimme aus? Ist Tonumfang alles oder gibt es noch mehr, wofür deine Stimme bewundert werden kann? Über den Mythos des großartigen Sängers.
Vor längerer Zeit las ich einen Artikel auf ClassicFM (diesen), der mich aufgebracht hat. Die Redaktion von ClassicFM hat darin Ariane Grande, eine großartige und überaus erfolgreiche Popsängerin unserer Zeit, mit einem klassischen Sopran verglichen. Auf Grundlage ihres Tonumfangs.
3 Sachen haben mich daran gestört:
Erstens, ganz im Ernst. Wen interessiert das? Sie ist eine fantastische Sängerin. Da muss nichts verglichen werden.
Zweitens, haben wir Musiker und Musikbegeisterte nichts Besseres zu tun, als Sänger nach ihrem Tonumfang zu bewerten? “Ich kann höher singen als du, also bin ich der/die bessere Sänger/in.” Wie schade, dass in kindlicher Naivität immer noch so viel Schadenfreude progagiert wird.
Drittens, wann nehmen meine lieben klassisch-trainierten Kollegen ihre Scheuklappen ab? Ja, ich spreche sie jetzt bewusst an, ClassicFM ist nunmal mehrheitlich auf diesen Stil ausgerichtet. Ich war durch mein Studium auch mal Klassikerin – aber ich wage zu behaupten, dass ich kein Genre-Bashing betrieben habe. Also, liebe Klassiker: Warum gilt im 21. Jahrhundert der klassische Gesang immer noch als Messlatte? Wer seid ihr, dass ihr euch so ein Urteil anmaßt?
Wer seid ihr, dass ihr von „a lesser soprano“ (eine Sopranistin mit geringerem Wert als Ariana Grande) sprecht? Wie menschenverachtend!
Wer seid ihr, dass ihr Ariana Grande vorwerft, „she might not have the breath control of a classical soprano“ (sie hätte nicht die Atemkontrolle eines klassischen Soprans)? Wen interessiert’s? Erstens muss sie nicht die costo-abdominale Atemstütze einer Klassikerin haben – denn sie ist Popsängerin. Zweitens, wie war das nochmal mit der klassischen Messlatte, die in euren Köpfen immer noch für alle gilt?
Wer seid ihr, dass ihr behauptet, „one of the most important parts of the job is to make everything look utterly effortless“ (einer der wichtigsten Jobs als Sänger ist es, dass es absolut mühelos aussieht)? Das ist eine Messlatte im klassischen Gesang. Im Popgesang gilt das Gegenteil: Das Publikum will die Emotionen auch sehen. Wenn du von Herausforderungen und Schmerzen singst, dann soll sich das bitte auch in deiner Mimik und Gestik ausdrücken.
Bist du nicht etwa Sänger, weil du … na, du weißt schon … singst?
Die Menschheit macht es sich so unglaublich einfach, bei der Frage “Woran erkennst du einen großartigen Sänger?” das Maßband hervor zu holen. Als ob etwas so Emotionales wie Musik berechnet und begrenzt werden kann.
Vokale Trapezkünste tun nur eins: Sie sprechen von deinem Ego.
Schau her, wie hoch ich singen kann.
Schau her, wie viele drölfzigtausend Noten ich in 3 Sekunden singen kann.
Schau her, wie toll meine Gesangskünste sind.
Ich! Ich! Ich!
Dabei geht es beim Singen um etwas ganz anderes.
Was eine großartige Stimme ausmacht
Meiner persönlichen Meinung als Sängerin und Vocal Coach nach haben großartige Stimmen 2 Dinge gemeinsam:
- Großartige Sänger haben Kontrolle über ihre Stimme.
- Großartige Sänger schaffen Zufriedenheit.
Lass mich erläutern, was ich damit meine.
1. Großartige Sänger haben Kontrolle über ihre Stimme
Ihre Stimme macht, was sie wollen – nicht umgekehrt.
Großartige Sänger singen auf eine Art, die sich leicht anhört. Ihr Stimme kann Stress und Sorgen ausdrücken, wenn der Song es verlangt, genauso aber auch Entspannung. Das tut sie, weil sie eine gute Gesangstechnik haben.
- gut ausgebildete Register
- stabile Zusammenarbeit der Register
- solide Kontrolle über die Atmung
- gut trainierte Intonation (kein Autotune!)
- unterschiedliche Lautstärken
- Stimmeffekte passend zum gewählten Genre (z.B. Vibrato, Vocal Fry, …)
- Resonanz passend zum gewählten Genre
Großartige Sänger können sich in andere Genres einarbeiten. Sie beherrschen ihre Gesangstechnik so gut, dass sie nicht nur die Stimmeffekte, Resonanzen, Lautstärken ihres Genres singen können, sondern sich auch an andere Genres anpassen.
2. Großartige Sänger schaffen Zufriedenheit
Ihre Stimme erfüllt die Bedürfnisse, die an sie gestellt werden: die des Genres, des Sängers (das sind sie selbst!) und der Zuhörer.
Gesang ist die intimste Art der menschlichen Kommunikation. Sie ist am nähesten dran am Menschen und seinem Befinden. Großartige Sänger wissen das.
Sie wissen, dass ihre Stimme mit den Anforderungen der Songs klar kommen muss. Mit den Anforderungen der Musik und der Melodie. Mit dem Text und dem Storytelling. Mit der Interpretation und Gestaltung.
Sie wissen auch, dass sie sich mit ihrer großartigen Stimme so ausdrücken können, wie sie es möchten. So emotional und warm, so kalt und distanziert, so stark oder verletzlich, wie sie es eben gerade möchten. Singen kommt aus der Seele. Singen ist persönlicher Ausdruck.
Und sie wissen, dass das Publikum zufrieden ist, wenn sie es gut machen. Großartige Sänger gehen auf ihr Publikum ein. Sie geben den Zuhörern etwas, mit dem sich diese identifizieren wollen – ihr Klang, ihr Aussehen, ihre Attitude, … Sie berühren ihre Herzen.
Ergo: es geht nicht um sie, sondern um Sie
Großartige Sänger wissen, dass es bei ihren Auftritten, ihren Plattenaufnahmen und Radioterminen nicht um sie selbst geht. Vielmehr geht es um die Songs und die Zuhörer – und ob ihre Stimme beiden gerecht werden kann.
Musik = Kommunikation
Sänger, die ihr Handwerk beherrschen, sind authentisch.
Sie können ihre Songs auf eine Art und Weise an den Mann und die Frau bringen, dass diese sich davon berührt fühlen. Dass sie den Sängern glauben, dass diese die Wahrheit erzählen.
Denn am Ende der Performance zählt nur: Hast du die Geschichte erzählt? Ist die Botschaft angekommen? Hast du zu den Herzen deiner Zuhörer gesprochen?
Auf der anderen Seite meines Mutausbruchs
Ich hab mich lange gefragt, ob ich diesen Artikel schreiben soll. Ich bin selten auf Konfrontation aus.
Aber ehrlich gesagt hab ich die Nase voll.
Es reicht mir, dass – unter Sängern, Musikern, Zuhörern, Musikjournalisten, Gesangslehrern – immer noch die Debatte “Was ist besser – Pop oder Klassik?” geführt wird.
Wann hört diese sinnlose Debatte endlich auf?
Wann erkennen wir an, dass Gesang (und im weiteren Sinn: Musik) einfach ist? Und dass es egal ist, ob du klassisch oder Pop oder Jazz oder Musical oder … singst. Hauptsache, du singst!
Bob Dylan hat in einer Rede den “King of Soul” Sam Cooke zitiert:
“Als man Sam Cooke sagte, er habe eine wunderschöne Stimme, antwortete er: »Naja, das ist sehr nett von Ihnen, aber Stimmen sollten nicht danach gemessen werden, wie schön sie sind. Stattdessen sollte nur zählen, ob sie es schaffen, Sie davon zu überzeugen, dass sie die Wahrheit sagen.«” (Bob Dylan)
Besser kann ich es auch nicht sagen.
Was meinst du? Was macht eine großartige Stimme aus? Wer ist für dich ein fantastischer Sänger?
Liebe Jessica,
gerade recherchiere ich für einen Roman und bin zufällig auf deinen Artikel gestoßen. Danke, dass du ihn veröffentlicht hast. Du singst hier zwar nicht ;-) , aber du triffst mit deinen Worten voll in mein Herz. Und du hast mir ein Stück weit bei der Frage geholfen, warum manche Stimmen uns im Inneren berühren und warum das nicht bei allen Menschen gleich ist.
Danke
Hi Dani, oh wie schön! Vielen Dank und viel Erfolg bei deinem Roman! LG Jessica
Genauso schiebt man in unserem Land die Messlatte der Ausbildung Stück um Stück herunter bis nichts mehr da ist. Gratuliere!
Man schiebt damit nicht die Messlatte herunter, Luciano, man wählt einfach eine andere.
Wer Popularmusik mit den Maßstäben der Klassik misst, der spricht von ihr auch als „nicht-klassische“ Musik. Und das ist schlicht falsch. Einen Bus nennt man nicht „nicht-Auto“, sondern „Bus“. Und für einen Bus gelten andere Maßstäbe als für ein Auto. Ebenso verhält es sich zwischen Popularmusik und klassischer Musik. Wie schade, dass du diesen generellen Unterschied herunterredest und nicht sehen möchtest.
Netter Alias, so nebenbei gesagt.
Hallo Jessica.
Mein Vater sagte damals, als ich anfing Lieder zur Gitarre zu singen, ich solle viel Gitarre üben, damit man meinen schlechten Gesang überhört. Und er hatte recht, ich habe keine gute Stimme, bin aber auch kein guter Gitarrist geworden, und Hobbymusiker geblieben.
Irgendwann habe ich angefangen Lieder zu schreiben, weil ich dachte es sei besser als nachzuspielen, weil man das Original nie erreicht. Und weil ich auch gemerkt habe, dass ich mit mehr als 2 weiteren Musikern nichts anfangen kann, habe ich ein typisches Gitarren Trio (Dolphins & Stars) gegründet. Und damit stand fest ich muss Gitarre spielen und singen. Ich hatte keine Zeit für Gesangsausbildung also bin ich in einen Chor gegangen. Da lernt sich Noten Lesen und Athmen und hören ganz von alleine. Auch wenn etwas vocalcoaching sehr hilfreich sein kann.
ABER: das nützt nichts in dem Augenblick in dem man ein Mikrofon in die Hand nimmt!!! Das habe ich bitterlich lernen müssen, weil ich mir jahrelang die Seele aus dem Leib gebrüllt habe und nach jedem Auftritt wochenlang heiser war. Dann habe ich mich in die Technikschlacht gestürzt und Mikrofone, Anlagen und Boxen gekauft, wieder verscheuert. Bis ich bei einem Sennheiser e965 und einer Dynacord Powermate 1000-3 und D12-Boxen gelandet bin.
Aber viel wesentlich war für mich, dass ich immer wieder, und zwar Täglich, und das bis heute mit meiner Anlage geübt habe. Leider fehlt vielen gesangsbegeisterten das Verständnis dafür dass eben nicht ihre Stimme das eigentliche Musikinstrument ist. Es ist das Mikrofon und die Gesangsanlagegesang. Wie bei einem Gitarristen, dem völlig klar ist, dass er sich um die Gitarre und seine Verstärker kümmern muss, sollte einem Sänger der einen gesangsverstäker benutzt klar sein, dass seine Stimme nur wie die Finger des Gitarristen sind.
Meine Stimme hat sich entwickelt beim Chorsingen. Mein verstärkter Gesang erst durch das hören auf die Anlage und das kontrollierte anzupfen des Mikrofons mit meiner Stimme.
Ich gebe dir aus Erfahrung mit vielen klassischen Sängern recht: mit Verstärkern können die nichts anfangen, weil sie denken, dass diese Maschine nichts weiter macht, als ihre wundervolle Stimme etwas lauter wiederzugeben. Und natürlich lehnt jeder brave Klassiker es ab eine Verstärkeranlage als Musikinstrument zu betrachten. Man sieht die vielen Tenöre gerade grandios in den aktuell geassierenden Play-back-Shows versagen (the two Tenors, the three tenors, …). Zum Glück sind die Play-backs gut gemacht.
Leider hat nicht jeder die Möglichkeit zu Hause mit Anlage zu üben. Trotzdem sei es Jeder Sängerin (Männer mitgeweint) angeraten sich mit dem Instrument, das sie benutzen wollen intensivst auseinander zu setzen, wenigstens eigene Mikrofone zu haben, und wenigstens einen kleinen übeverstärker. Und vor allem den Sound nicht irgendeinem Bandmitglieder zu überlassen, das zufällig Besitzer des Mischpults ist …
Es ist nun mal Deine Stimme, die mit der Anlage verstärkt wird. Also kümmere dich drum!
Olaf
Vielen Dank für deinen Erfahrungsbericht, Olaf! Ich stimme dir zu, eine Gesangsanlage macht einen gewaltigen Unterschied. LG Jessica
Liebe Jessica,
vielen Dank für den tollen Beitrag, der mittlerweile schon ein paar Jahre alt ist und mich dennoch sehr angesprochen hat.
Ich singe selbst in zwei Bands, nehme regelmäßig Gesangsunterricht bei einer klassisch ausgebildeten Gesangslehrerin und bei einer studierten Jazz/Pop Gesangslehrerin. Beide haben eine ganz andere Herangehensweise. Die eine legt sehr viel Wert auf den Stimmsitz, die Atmung, die Körperspannung … die andere möchte den Song erzählen: Was passiert im Song?Was brauchst du dazu? Was ist rhythmisch spannend? Wie kannst du es zu deinem eigenen Song machen? Beide Ansätze finde ich wichtig und richtig.
Nun hatte ich ein spannendes Erlebnis. 3 Tage vor einem Auftritt habe ich erfahren, dass ich spontan einen Song singen soll, den ich davor (nicht mal daheim) gesungen habe. Allein nur mit einer Klavierbegleitung. Ich habe mich auf das Abenteuer eingelassen. Was ist passiert? Ich konnte mich lediglich mit der Aussage des Songs vertraut machen – ja, ich habe ihn ein paar Mal durchgesungen, aber ich konnte weder den gesamten Text auswendig lernen, noch alle stimmlichen Feinheiten ausarbeiten. Beim Auftritt habe ich mir vorgenommen, die Geschichte zu erzählen und mein Empfinden dazu auszudrücken. Das Ergebnis ist für mich völlig überraschend gewesen. Während ich bei den Aufnahmen so viele „Fehler“ (fehlende Stütze, zu laut, zu leise, zu stimmlos, zu weit im Hals,….) höre, sind die Menschen aus dem Publikum zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass sie Gänsehaut hatten und Tränen in den Augen. Es ist unglaublich, was da passiert ist …
Daher bin ich dir so dankbar über den Artikel! Ja, es geht um die Menschen, die man erreichen will. Wie das genau passiert, das weiß man manchmal selbst nicht genau, aber es ist nicht immer die perfekte Technik … ;-)
Liebe Grüße,
Sarah