Was ich beim Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang gelernt habe
Vor kurzen fiel mir auf, dass ich nun länger Pop trainiere als ich jemals Klassik studiert habe. Ich kam ins überlegen und mir sind neun Dinge eingefallen, die ich beim Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang gelernt habe.
Seit ich denken kann, singe ich Pop und Rock. Wie du wahrscheinlich auch habe ich zu allem mitgesungen, was im Radio lief. Aber meine ersten Gesangslehrerinnen haben mir Klassik beigebracht. Elf Jahre lang hatte ich Unterricht in klassischem Gesang. Ich habe in Chören mit traditionellem Chorklang gesungen, in dauerhaften und projektweisen Vokalensembles und bin solistisch aufgetreten. Ich hab es gern gemacht. Es hat mir Freude bereitet und ich finde den Klang auch heute noch schön.
Doch seit zwölf Jahren trainiere ich meine Stimme auf Populargesang. Denn ich hatte ganze Zeit gespürt, dass mir etwas fehlte. Ich brauchte den Ausgleich mit Rock-, Musical- und Filmsongs. Und so habe ich mich nach meinen Gesangspädagogik-Studium zur Kehrtwende entschlossen. Ich hab mir einen Popsound angeeignet — manchmal möchte ich fast sagen, ich habe ihn mir erkämpft, so stark waren meine klassischen Gewohnheiten. Es hat sich jedoch gelohnt. Ich bin glücklich, wenn ich Pop und all die anderen Populären Stile singe. Die Klassik mag ich weiterhin, aber Popgesang macht mich glücklich.
Beim Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang habe ich einiges über das Singen, die Musik und über mich erfahren. Hier sind neun Erkenntnisse. Ich hoffe, sie helfen dir, falls du einen ähnlichen Weg gehst.
Neun Dinge, die ich beim Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang gelernt habe
1. Ich finde nicht alle Antworten bei einem einzigen Gesangslehrer
Aus der Klassik war ich daran gewöhnt, dass meine Gesangslehrerin alles wusste, was relevant für meine Entwicklung als Sängerin war. Ich musste nur ordentlich zuhören und die Aufgaben umsetzen. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, ob dieses Nebenthema oder jenes ebenfalls wichtig sein könnte. Sie wusste, worauf es ankommt – ich nicht.
Dass ich so dachte, hatte sicherlich auch damit zutun, dass ich meine ersten Gesangsstunden erhalten habe, als ich noch in der Schule war.
Im Popgesangs musste ich meine innere Einstellung überdenken.
Denn im Pop ist es vollkommen normal, aus verschiedenen Quellen zu lernen. Gleichzeitig. Ich hatte nicht nur Gesangsunterricht bei einer Pop-Lehrerin, sondern habe auch noch Workshops besucht, Bücher gelesen, Podcasts gehört, und Videos und Tonaufnahmen von Künstlern analysiert.
Es ist auch normal, mehrere Vocal Coaches gleichzeitig zu haben. Mich verwirrt das schnell, aber ich kenne Kollegen, die neben ihrem Haupt-Vocal Coach noch Stunden nehmen bei ein oder zwei weiteren Coaches. Diese vermitteln Spezialthemen, die ihr Haupt-Coach nicht abdeckt oder nicht in der Tiefe, die sie sich wünschen.
Oder sie haben nicht nur einen Vocal Coach, sondern auch einen Gitarrenlehrer und absolvieren einen Videografie-Kurs. Und wenn dort Tipps zum Singen genannt werden, dann ist es normal, sie auszuprobieren oder zum Vocal Coach mitzunehmen. Dieses Netzwerk an Menschen, von denen Popsänger lernen, kann manchmal zu Verwirrungen führen und gleichzeitig dabei helfen, sie zu klären und tiefer zu lernen.
2. Ich darf selbst aktiv sein
Es kommt mir heute so vor, als wäre das selbstverständlich und schon immer mein Modus Operandi gewesen. Aber in den Zeiten meines klassischen Gesangsunterrichts gab es nicht viele Dinge, die ich selbst bestimmen durfte. In einem eng gesteckten Rahmen durfte ich Ideen für Stücke in die Gesangsstunden mitbringen. Unter meinen Vorschlägen haben meine Lehrerinnen dann die Stücke ausgesucht, die für mich geeignet waren. Als ich dann zum ersten Mal Pop-Unterricht hatte, war ich mit vielen Dingen echt überfordert.
Ich durfte selbst bestimmen, welche Songs ich singe. Und es gab keine Grenzen!
Ich durfte festlegen, wie der Song am Ende klingen sollte. Es war mein Song. Ich musste nicht mehr im originalen Stil bleiben, weil der Komponist es so festgelegt hatte. Wenn ich einen straighten Popsong verswingen wollte oder einen Rocksong mit der Ukulele begleiten, dann hat mir das niemand verboten.
Ich durfte sagen, welche Dinge ich lernen wollte – und es war okay, dass ich die richtigen Namen dafür noch nicht kannte.
Ich durfte entscheiden, wie ich lernen will. Will ich Noten verwenden oder Songs hörend lernen? Hilft mir das Aufsagen des Textes wie ein Gedicht? Möchte ich mir einen Plan für das Arrangement machen oder möchte ich experimentieren?
Ich durfte mir die Workshops aussuchen, die mich interessiert haben, statt zu Masterclasses zu gehen, weil ein berühmter Gesangslehrer gerade in der Stadt war.
Ich durfte und darf also selbst bestimmen, welche Ausrichtung meine Pop-Ausbildung hatte. Was hat mich interessiert? Was mag und bewundere ich an den Populären Stilen? Journaling über Gesang hat mir dabei geholfen. Es hilft mir, Dinge aufzuschreiben und schwarz auf weiß vor mir zu sehen. Je ausführlicher ich schreibe, desto weniger überfordert habe ich mich gefühlt. Die Dinge wurden klarer. Bis heute schreibe ich gern und regelmäßig über meinen Gesang.
3. Ich darf die Verantwortung für mein Lernen übernehmen
Ich habe nie gelernt, wie man übt. Meine klassischen Gesangslehrerinnen haben vorausgesetzt, dass ich weiß, wie das geht. Keine hat darüber gesprochen. Meine Lehrer in Klavier, Gitarre, Akkordeon und Orgel übrigens auch nicht! Also habe ich übernommen, was wir im Gesangsunterricht gemacht haben und es in derselben Reihenfolge geübt. Die Erfolge waren durchwachsen.
Je länger ich aktiv bestimmen durfte, was und wie ich Popgesang lerne, desto selbstbewusster habe ich auch das Ruder meine Lern-Bootes übernommen.
Ich hab gelernt, dass meine schriftlichen Notizen und Sprachnachrichten an mich selbst mir mehr bringen als den Wortlaut zu kopieren — auch wenn ich dadurch in den Augen meiner Coaches ein paar Minuten meiner wertvollen Gesangsstunde vergeudet habe.
Ich hab festgestellt, dass es ok ist, wenn ich Dinge anders festhalte — und andere Dinge festhalte — als andere Sänger.
Ich hab gelernt, mir meine eigenen Überoutinen zusammenzustellen. Dass es keine allgemein gültige Version gibt, und auch, dass es die nicht für meine eigene Stimme mit ihren eigenen, ständig wiederkehrenden Herausforderungen gibt. Jede Lebensphase, jeder Monat, jede Woche wird anders sein. Und das ist okay.
Ich hab angefangen zu hinterfragen, was mir beigebracht wurde. Mein Wissen darf ich revidieren und Unnützes darf ich aussortieren, während ich neue Fähigkeiten trainieren.
Dadurch habe ich nicht nur herausgefunden, was für mich funktioniert, sondern auch, dass es egal ist, wie die Anderen schauen. Es ist mein Lernweg und er muss nur zu mir passen. Das mit Abstand wichtigste Tool ist dabei, wie im 2. Punkt bereits angesprochen, mein Sing-Journal. In diesem Notizbuch halte ich alles fest, was mit meinem Gesang zu tun hat: meinen Weg, mein Training, meine Unterrichtsstunden, mein Repertoire, meine Ziele und Interessen, meine Reflexionen und Erkenntnisse.
4. Imitation ist nach wie vor erlaubt
Im klassischen Gesangsunterricht lernst du von deinem Gesangslehrer auch das klassische Klangideal. Zwar haben mir Kollegen erzählt, dass Youtube und Streaming-Dienste mittlerweile ein selbstverständlicher Teil ihres Unterrichts sind und sie auch auf Playbacks zurückgreifen, aber in den 2000ern war das in meinem Unterricht nicht üblich. Ich hatte also nur meine Lehrerinnen, deren Klang ich imitierte.
In den Populären Stile hatte ich plötzlich nicht mehr nur ein Klangvorbild, sondern tausende.
Denn Populargesang ist künstlerzentriert. Was der Künstler macht, ist richtig; was der Komponist des Songs vorgesehen hatte, ist lediglich ein Vorschlag. Dadurch sind alle Künstler, die ich toll fand, über Nacht zu meinen Vorbildern geworden. Ich hatte nun viele verschiedene Klänge, Sichtweisen über Musik und Gesang, und Arbeitsweisen, an denen ich mich orientieren konnte.
Das bedeutete auch, dass ich mich ab diesem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Lernen nach Gehör auseinander setzen durfte. Hörend Songs zu lernen ist der Modus Operandi der Populären Stile.
Das hat mich enorm Kraft gekostet. Ich hab eine schnelle visuelle Auffassungsgabe, aber bei Hörbeispielen ist mein Gehirn ein Nudelsieb. Einzelne Merkmale des Gesangs herauszuhören gingen irgendwie, aber ganze Melodien? Die entscheidende Stelle, wo der Song vom erzählenden, fast sprechenden Gesangsstil ins Singen wechselt und mit welchen Noten? Und welche Phrase sich von den anderen fünf minimal unterscheidet? Noten waren doch mein Anker! Und auf einmal kam der Popgesang daher und zieht mir den Boden unter den Füßen weg! Puh! Es war ein langer Kampf.
Zwei Bücher haben mir dabei sehr geholfen: “Popvocals – Der Weg zur eigenen Stimme” von Nikola Materne und “Stimmausbildung in der Popularmusik” von Martina Freytag. Damit lagen nun alle essentiellen Zutaten vor mir. Ich konnte endlich deutlicher hören, wie Popsänger in Aufnahmen gesungen haben, weil ich wusste, was das Buffet überhaupt anbietet. Und damit konnte ich nun entscheiden, welche Klänge mich wirklich interessieren.
Mittlerweile habe ich Erfahrung im Lernen nach Gehör. Dadurch habe ich auch erkannt, warum Noten im Pop nur zu 60 Prozent stimmen: Sie können gar nicht alle Facetten des Popgesang abbilden. Ich bin allerdings immer noch keine Expertin. Vielleicht wird das noch.
5. Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang geht nicht über Nacht
Egal, wie schnell ich in meinem Traum-Sound ankommen wollte, das Umtrainieren brauchte Zeit. Klassischer Gesang und Popgesang benutzen unterschiedliche Gesangstechniken. Das neue Training hat mich herausgefordert. Ich musste die Poptechniken neu lernen und gleichzeitig die alten, klassischen Techniken vergessen. Anfangs hat mein Gehirn oft die Abzweigung verpasst und ist von sich aus in den klassischer Sound gewechselt. Da half nur aktives Eingreifen und Geduld.
Was mich dabei unterstützt hat, waren zwei Bücher, die nichts mit Singen zu tun haben. “Die Macht der Gewohnheit” von Charles Duhigg und “Die 1%-Methode” von James Clear erklären anschaulich, wie Gewohnheiten entstehen. Dadurch konnte ich den Ablauf meines Übens verbessern und das Umtrainieren beschleunigen. Und sie haben mir Mut gemacht, das es nur eine Frage der Zeit ist.
Denn das Gewohnheiten sich innerhalb eines Monats festsetzen, ist ein Mythos. Dieser Zeitraum ist nur der statistische Mittelwert. Tatsächlich fand eines Studie (Quelle *) heraus, dass es zwischen 18 und 254 Tagen dauert — vom 1. Januar bis 11. September eines Jahres — bis sie im Gehirn etabliert sind. Ich musste also die Pop-Gesangstechnik nicht über Nacht perfekt beherrschen.
* Quelle zur Gewohnheitsstudie:
Phillippa Lally, Cornelia H. M. van Jaarsveld, Henry W. W. Potts, Jane Wardle: “How Are Habits Formed: Modelling Habit Formation in the Real World.” In: European Journal of Social Psychology, 2010, 16. Juli 2009. Link zum PDF (Direkt-Download).
6. Es war nicht alles schlecht
Das Umtrainieren hat sich für mich wie ein Neustart angefühlt. Einerseits war es toll, meine Popstimme kennenzulernen. Andererseits war ich frustriert. Nicht nur wegen der oben beschriebenen Gewohnheiten, die ich neu lernen durfte. Manchmal fühlte es sich einfach an, als hätte ich 11 Jahre meiner Lebenszeit verschwendet.
Doch je länger ich den Weg des Popgesangs gehe, desto mehr erkenne ich, dass nicht alles umsonst war. Ich fange nicht bei Null an. In der Praxis kann ich einige Dinge übernehmen:
Die costo-abdominal-Atmung. Ich nutze sie im Pop selten, aber an kniffligen Stellen ist sie hilfreich.
Die Fähigkeit, mein Ansatzrohr (Mundraum, Unterkiefer, etc.) weit öffnen zu können. Es ist nicht oft erforderlich ist, aber wenn, dann zählt es.
Eine angstfreie Höhe. Beim Unterrichten habe ich festgestellt, wie viele Sängerinnen und Sänger aller Stimmlagen sich mit ihren hohen Tönen abmühen, auch wenn ihre Stimmen ansonsten mühelos funktionieren. Es sind Blockaden im Kopf, die sie abhalten. Ich muss meinem Übergang in der 5. Oktave zwar weiterhin mit Liebe und Aufmerksamkeit behandeln, doch die restliche Höhe läuft.
Ich kenne meine Stimme und weiß, was sie gesund hält.
Ein musikalisches Gespür. Einerseits für die Dissonanzen und Konsonanzen der Melodie zur Begleitung, d.h. wo sich Spannung aufbaut und wo sie sich wieder abbaut. Das macht die Gestaltung von Songs einfacher. Andererseits reicht dieses Gespür auch in das Zwischenmenschliche hinein. Die Interaktion mit anderen Musikern ist unverändert. Wir musizieren gemeinsam, nicht gegeneinander und Cues zu geben, dem Gitarrensolo Platz auf der Bühne zu geben, auf einander und auf die Musik zu achten, das findet in jedem Genre statt.
Meine Erfahrungen im Chor. Im Popgesang muss ich Töne nicht um jeden Preis aushalten oder lange Phrasen auf einen Atemzug singen können. Es trotzdem tun zu können, wenn eine Ballade es erfordert, macht einfach Spaß.
Es war nicht alles schlecht in meinen Klassik-Jahren. Und es ist sicherlich auch meiner Entwicklung als Mensch seither geschuldet, dass ich dieses Körnchen Weisheit gelernt habe.
7. Ich darf Dinge ausprobieren, ohne mich gleich festzulegen
Im klassischen Gesang hatte ich oft das Gefühl, dass alles, was ich singen durfte, das Richtige sein musste und ich es zwingend zu Ende führen müsste. Ich durfte viele Stücke, die mir gefielen, nicht singen, weil sie mir hätten schaden können.** Als meine Stimme dann in ihr Stimmfach (lyrischer Sopran) eingeteilt wurde, durfte ich nur noch singen, was sich für dieses Stimmfach gehörte. Darüber war ich traurig und manchmal auch verärgert.
Andere Sopranistinnen erzählten, dass ihre Gesangslehrer mit ihnen auch Repertoire für Mezzosopran sangen, dass auch Operette, UFA und Disney auf dem Programm standen. Ich dagegen wurde in den Kunstgesang gesteckt und dabei blieb es. Opernarien gab es quasi auf Rezept, damit meine Stimme sich entwickelt, nicht um meine Spielfreude auszubauen und zu verfeinern.
Den Raum für Experimente musste ich mir im Popgesang dann umso schwerer erarbeiten. Ich hatte riesige Angst vor dem Improvisieren und Jazz-Sänger waren mir ein Buch mit sieben Siegeln.
Vor allen Dingen habe ich durch das Umtrainieren von klassischem Gesang auf Popgesang aber gelernt, dass ich Dinge abbrechen darf. Ich darf Songs, Genres, Gesangsmethoden, Auftrittsformate, Choreografien und vieles mehr einfach mal anfangen und dann schauen, wie es mir damit geht. Und wenn ich nach dem Konzert feststelle, dass es nicht so gelungen war, wie ich wollte, dann durfte ich es wieder loslassen.
Sprich, ich durfte selbst entscheiden, bei welchen Dingen ich nachlasse und an welchen Dingen ich festhalte, um sie zu verbessern.
Und das macht mir bis heute Spaß.
** Potentiellen gesundheitlichen Schaden von Sängern — vor allem von jungen Sängern, deren Kehlköpfe und Stimmen sich erst noch entwickeln — abzuhalten finde ich eine sinnvolle Richtlinie im Gesangsunterricht, die ich selbst befolge. Doch der vermeintliche Schutz ließ zumindest mir keinen Freiraum. Ich war damals auch kein Kind mehr.
8. Ich darf hässlich klingen
Als lyrischer Sopran wurde mir in der Klassik ein einziges Klangideal vorgelebt. Zierlich, weiblich, anständig hatte ich zu klingen. Nicht ganz Prinzessin, aber nah dran.
Im Pop geht es jedoch um Individualität und den persönlichen Ausdruck. Und wenn ich der Meinung bin, dass diese oder jene Stelle hässlich klingen muss, dann verbietet es mir niemand. Schönheit liegt immer im Ohr des Zuhörers. Ich habe keinen Einfluss darauf, wem der Klang meiner Stimme gefällt. Aber wenn es mir Spaß macht, in einem Song rotzig zu klingen und ich es für angemessen halte, dann gibt es wenigstens eine Person, der es gefällt: Mir.
Nun durfte ich also aufmüpfig klingen. Vollmundig tief oder sinnlich. Gelangweilt oder schlecht gelaunt. Laut.
Dabei habe ich auch gelernt, meinen Gesang nicht gleich zu bewerten. In der Klassik geht es recht schnell schon um ein ehrwürdiges Ziel: den schönen Klang. Nicht selten habe ich gehört: Bereits das Einsingen soll musikalisch sein! Uff. Welch ein Druck! Ich habe es damals geglaubt. Und habe mir die Chance genommen, beim Warm-up erst einmal zu schauen, wie es meiner Stimme und meinem Körper aktuell gerade geht, ganz ohne Werturteile, und was sie gerade brauchen.
Dieses Freischwimmen genieße ich bis heute. Im Popgesang darf ich mir selbst den Segen geben. Ich darf den Raum einnehmen. Und tu es.
9. Künstler sind wichtiger als Komponisten
Noten waren für mich schon immer eine essentielle Grundlage meines Musizierens. (Du erinnerst dich, ich bin ein visueller Typ.) Im Pop haben sie jedoch bestenfalls zu 60 Prozent recht. Warum? Weil es für viele Dinge, die Künstler in den Populären Stilen tun, keine Notensymbole gibt. Für das Anschleifen von Tönen, für Creak, Hauch und Twang und all die anderen Stilmerkmale. Deswegen ist das Lernen über das Gehör auch so wichtig. Und deswegen bestimmt allein der Künstler — also ich! — die restlichen Prozente.
Der Komponist eines Songs hat im Popgesang viel weniger zu sagen als im klassischen Gesang. Seine Arbeit ist wichtig, keine Frage, denn ohne ihn gäbe es weniger Songs. Aber seine Werke sind nicht in Stein gemeiselt. Er macht Vorschläge – er ist nicht Moses.
Außerdem schreiben Künstler in den Populären Stile ihre Songs vielfach selbst. Ein externer Komponist spielt dabei gar keine Rolle.
Ich durfte also lernen, mir Fragen zu stellen wie: Wie will ich klingen? Was will ich ausdrücken? Welches Arrangement stelle ich mir vor? In welchem Stil will ich diesen Song singen? Anfangs haben mich diese vielen Möglichkeiten eingeschüchtert. Mittlerweile habe ich Spaß an dieser bedingungslosen Freiheit und experimentiere so lange, bis ich gefunden habe, was sich stimmig anfühlt oder anhört. Ich bin hineingewachsen.
Das waren neun Erkenntnisse auf meinem Weg des Umtrainierens von klassischem Gesang auf Popgesang. Einiges davon trifft vielleicht mehr auf mich als auf andere Sänger zu. Und doch habe ich mittlerweile eine ganze Reihe von Sängern gecoacht, die ebenfalls mit klassischem Gesangsunterricht begonnen haben und ähnliche Erfahrungen gemacht habe.
Wenn du mehr über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von klassischem Gesang und Popgesang erfahren möchtest, empfehle ich dir meine Blogartikelserie “Popgesang oder klassischer Gesang”.
Für die Zukunft wünsche ich mir mehr Respekt für alle Sänger. Für die Klassiker, dass eure Gesangslehrer auf euch und eure Interessen eingehen. Für alle klassischen Sänger, die in die Populären Stile wechseln (wollen), dass auf eure früheren Wege Rücksicht genommen wird. Und dass ihr alle liebevoll an die Hand genommen werdet von euren Gesangslehrern, damit ihr zu den Künstlern werdet, die ihr in euren Herzen schon seid.
Hattest du selbst früher klassischen Gesangsunterricht und hast auf die Populären Stile umtrainiert? Dann teile gern deine Erfahrungen in den Kommentaren.
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