Popgesang ist eine Vibrato-freie Zone?!

Heute möchte ich mir dir über das Thema Vibrato sprechen und wie Vibrato im Popgesang behandelt wird. In der deutschen Popmusikszene ist es ein Schreckgespenst. Es verunsichert viele Sänger, lässt sie an sich zweifeln und sorgt für eine negative Stimmung unter Musikern – und das ist falsch!

 

Eine wahre Geschichte

Eine Kollegin wurde von einer Band gefragt, ob sie nicht Lust auf ein Projekt hat. Hatte sie, also ging sie zur Probe. Sie sang so wie immer: klare Stimme, saubere Intonation, gute Atemtechnik, Gefühl in den Songs. In der Probe wurde die Stimmung in der Band aber immer schlechter. Am Ende kam der Bandleader auf meine Kollegin zu und sagte:

„Das war ganz nett. Aber du singst ja mit Vibrato. Das macht man im Pop nicht!“ 

 

Was war schief gelaufen?

 

Aus meiner Sicht eine einzige Sache: Die Band und die Sängerin hatten vorab nicht ausreichend miteinander kommuniziert. Hatten ihre Levels und ihre Erwartungen nicht geklärt. Die Kollegin singt viel Kirchenmusik und hat ein klassisch geprägtes Gesangstraining absolviert. Die Band hatte sich für ein Christliche-Popmusik-Projekt zusammengetan und erwartete eine Sängerin mit Popsound.

Aus Sicht der Band war jedoch die Sängerin Schuld. Genauer gesagt: Ihr Vibrato.

 

Was ist überhaupt Vibrato?

Wikipedia definiert es so:

„Das Vibrato […] ist die periodisch wiederkehrende, geringfügige Veränderung der Frequenz eines gehaltenen Tons.“

Dabei verändert sich die Frequenz des Tons, sowie die Lautstärke und die Formanten. Die Frequenzveränderung ist das eigentliche Herzstück.

Wenn du ein C4 singst, schwingen deine Stimmlippen auf der Frequenz von rund 261 Hertz. Sie öffnen und schließen sich 261 Mal pro Sekunde. Singst du ein C4 mit Vibrato, dann produziert dein Körper eine Veränderung dieser Grundfrequenz. Der Ton wird minimal höher und tiefer, im Idealfall um 4,5 bis 6,5 Hertz. Das führt jedoch nicht dazu, dass du einen anderen Ton singst, denn die Nachbartöne des C4 haben deutlich höhere und tiefere Frequenzen: Das C#4 liegt bei rund 277Hz und das B3 bei rund 247Hz.

 

Und so hört es sich bei Popsängern an. Bitte hör aufmerksam hin und schalte nicht gleich nach 30 Sekunden ab.

https://www.youtube.com/watch?v=lvusOo0ks0g

 

Standby oder On/Off?

Vibrato beeinflusst deinen Sound. Doch es gibt Unterschiede: zwischen einem willkürlichen Vibrato und einem unwillkürlichen Vibrato.

 

Das unwillkürliche Vibrato, oder: Standby

Daran denken die meisten, wenn sie den Begriff hören: Ein Sänger, der jeden Ton mit einem ominösen Zittern in der Stimme singt, es nicht abstellen kann oder will, und dem Zuhörer damit auf den Keks geht.

 

Das Thema Vibrato ist kein Kriegsgebiet!

 

Bitte geh jetzt zu deiner Wohnungstür, mach sie auf, stell deine Vorurteile draußen vor der Tür ab, und schließe sie wieder.

Du bist wieder da? Super. Dann kann es unvoreingenommen weitergehen.

 

Ein unwillkürliches Vibrato ist antrainiert. Die Atmung und die Stimmlippenfunktion werden durch jahrelanges Gesangstraining punktgenau gekoppelt. Dann ist es dauerhaft in der Stimme.

Das ist ein Ziel der klassischen Gesangsausbildung. Es ist dort ein Qualitätsmerkmal und vermittelt, dass der Sänger über eine ausgebildete und ausbalancierte Stimme verfügt, die dem Schönheitsideal des klassischen Gesangs entspricht. Klassische Sänger, deren Stimmen als besonders ästhetisch wahrgenommen wird, singen zwischen 80% und 95% aller Töne mit Vibrato.

Bitte lies dir den letzten Absatz noch einmal durch. Ohne Vorurteile.

Ein Sänger, der mit Vibrato singst, ist kein schlechter Sänger. Er hat lediglich ein anderes Klangideal im Kopf. So, wie du dir unter deinem Traumurlaub etwas anderes vorstellst als dein Arbeitskollege.

Vibrato ist nicht „gut“ oder „schlecht“. Es „ist“ einfach.

 

Das willkürliche Vibrato, oder: On Off

Du kannst dich auch ganz bewusst für das Singen mit Vibrato entscheiden. Du schaltest es quasi auf Knopfdruck zu und ab.

Ab hier wird es spannend, denn: Du triffst eine bewusste Einscheidung.

Dadurch wird es zu einem Stilmittel. Wie ein Slide, ein Ankarren oder der Gebrauch der Kopfstimme. Du findest das willkürliche Vibrato im Popgesang, weil dort der persönliche Ausdruck sehr groß geschrieben wird.

Aber auch hier gilt: Bitte bewerte einen Sänger nicht danach, ob und wie viel Vibrato er einsetzt! Es ist seine Entscheidung. Ihm muss es gefallen, nicht dir.

 

Alles kann, nichts muss!

Um dir zu verdeutlichen, dass im Popgesang beides legitim ist und es durchaus ein paar Zwischenstufen gibt, habe ich ein paar Sänger zusammengetragen.

 

Ohne alles, bitte!

Verzichtet ein Sänger auf das Vibrato, will er meist jung, frisch, energetisch, direkt klingen. Eine gerade Stimme ist häufig, aber nicht immer, unausgebildet – ein Sänger ohne Gesangstraining.

 

Mit Sahne, bitte!

Mit Vibrato klingt eine Stimme erfahren, rund, warm und je nach Stil auch groß (Rock) oder weich (Soul, Pop). Im Pop verwenden Sänger es gern am Ende von langen Tönen, um die Emotionen und den Ausdruck zu steigern.

 

Bullshit

 

Schlussfolgerung

Im Populargesang ist Vibrato ein Stilmittel. Add it or leave it. Du darfst dich dafür bewusst entscheiden. Als Zuhörer bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden, dass ein anderer Sänger seine Entscheidung getroffen hat.

Bitte trage deinen Teil dazu bei, dass das Vibrato nicht länger einen Stempel mit der Aufschrift „Schlechter Sänger! Macht man nicht!“ trägt. Verhalte dich fair und erwachsenen deinen Kollegen am Mic gegenüber. Verurteile nicht.

Gestehe anderen Sängern die Freiheit zu, die du dir selbst wünschst: frei entscheiden zu können, ob du mit oder ohne Vibrato singst. We are all in this together.

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2 Kommentare
  1. Steffi sagte:

    Hallo Jessica und Team,
    ich finde die Beiträge auf dieser Homepage immer wieder sehr interessant und informativ. Leider ist auf dieser Seite etwas nicht wirklich praktisch… Es existiert für das Youtube-Video kein Hyperlink.
    Wäre super, wenn ihr das beheben könnt.
    Lieben Gruß,
    Steffi

    Antworten

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