Brauche ich als Sänger ein absolutes Gehör?

Braucht man als Sänger ein absolutes Gehör?

Ich habe mir überlegt, eine neue Rubrik zu eröffnen: Sängerfragen. Denn manchmal stellen mir meine Sänger Fragen, auf die ich selbst so gar nicht komme. In diesem Artikel und der dazugehörigen Sängerfrage geht es deshalb um das absolute Gehör:

Braucht man ein absolutes Gehör, um ein richtiger Sänger zu sein?

 

Absolutes Gehör

Zunächst einmal eine Definition:

Das absolute Gehör ist die Fähigkeit eines Menschen, einen Ton aus dem Stegreif korrekt benennen oder singen zu können, ohne zuvor einen Vergleichston, z.B. vom Klavier, gehört zu haben.

 

Lange Zeit glaubte man, dies sei eine rein angeborene Fähigkeit. In letzter Zeit haben Forschungen jedoch ergeben, dass auch die Erziehung eine Rolle spielt. Wer frühzeitig mit dem Musikunterricht beginnt, d.h. vor dem 8. Lebensjahr, hat eine höhere Chance, seine angeborene Fähigkeit für das absolute Gehör zu verstärken, als jemand, der nach dem 8. Lebensjahr startet.

Interessant ist auch, dass es in tonalen Sprachen wie Chinesisch wesentlich mehr Absoluthörer gibt als in nicht-tonalen Sprachen, wie sie in Europa gesprochen werden.

Man unterscheidet zwei Arten des absoluten Gehörs: das Passive und das Aktive.

  • Wer passiv absolut hört, kann einen gespielten Ton ohne Zuhilfenahme eines Vergleichstons sofort benennen.
  • Wer aktiv absolut hört, kann dies ebenfalls. Darüber hinaus kann man einen genannten Ton aus dem Stegreif singen. Das aktive absolute Gehör setzt also zusätzlich musikalische Vorstellungskraft voraus.

 

Der Nutzen des absoluten Gehörs

Was hat das alles mit dem Singen zu tun? Welche Bedeutung hat das absolute Gehör für Sänger?

Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ich diesen Artikel als Relativhörerin schreibe (Näheres dazu im nächsten Abschnitt).

Die Allgemeinheit geht davon aus, dass Absoluthörer die besseren Musiker sind.

Ein positiver Nutzen ist sicherlich, dass sich ein Sänger mit aktivem absolutem Gehör selbst die Starttöne geben kann. Das kann als Chorleiter nützlich sein, für Sänger, die viel a cappella singen oder wenn man sich selbst an der Gitarre (oder anderen schnell stimmbaren Instrumenten) begleitet.

 

Es hat aber auch Nachteile, absolut zu hören.

Wenn man als Sänger der einzige Absoluthörer in der Band ist und man einfach hört, dass die Kollegen ihre Instrumente nicht hundertprozentig gestimmt haben. Im schlimmsten Fall singt man den ganzen Abend schief zur Band. Die eigene innere Tonvorstellung weicht dann unter Umständen zu stark von dem Klang ab, den man von der Band hört.

Auch als singender Absoluthörer in einem Chor voller Relativhörer kann es schmerzlich für das eigene musikalische Empfinden werden.

Außerdem muss man anmerken, dass es auch in Europa, in denen mehrheitlich nicht-tonale Sprachen gesprochen werden und nicht jedes Kind mit 2-3 Jahren schon Klavierunterricht bekommt, viele ausgezeichnete Musiker gibt. Ein absolutes Gehör ist absolut nicht nötig, um ein guter Sänger zu sein!

 

Die Alternative: Relatives Gehör

Wer jetzt denkt, er wird das mit dem Singen nie hinkriegen, weil er ja kein absolutes Gehör hat: Das relative Gehör ist eine echte Alternative.

Das relative Gehör ist die Fähigkeit eines Menschen, einen Ton mit einem anderen Ton in Beziehung setzen zu können.

Das größte Vorteil daran: Es ist trainierbar. Jeder Sänger kann sein Hören und seine Tonvorstellung verbessern.

 

Ein kleines Beispiel, wie das relative Gehör funktioniert:

Ich gebe dir den Startton c4 auf dem Klavier und bitte dich, ein g4 zu singen.

Ein trainierter Relativhörer weiß, wie c4 und g4 in Relation stehen. Sie sind eine Quinte oder 7 Halbtöne oder 5 weiße Klaviertasten voneinander entfernt, wobei g4 höher liegt als c4. Er kann jetzt loslegen und 7 Halbtöne nach oben singen, oder er nimmt die Abkürzung: Wenn c4 und g4 eine Quinte auseinander liegen, sind beide Töne Bestandteil des C-Dreiklangs. Also singt er einen Dreiklang c-e-g und gelangt so zu g4.

 

Musiker, die schon sehr lange ihr Gehör trainieren, können mitunter einen Sonderfall zwischen relativem Gehör und absolutem Gehör darstellen: wenn sie als ausgewiesene Relativhörer trotzdem ein oder zwei Töne aus dem Stegreif singen können.

Das hört sich vielleicht komisch an, aber ich bin ein Beispiel für dieses Tongedächtnis.

In meiner Ausbildung habe ich viele Jahre mit der Stimmgabel gearbeitet, die den Kammerton a1 (wissenschaftlich: a4) angibt. Daraus habe ich mir alle Töne abgeleitet, die ich brauchte. Nach ca. 3, 4 Jahren konnte ich diesen Ton aus dem Stegreif singen, denn er hatte sich in meiner musikalischen Vorstellung „eingebrannt“.

Heute ist diese Fähigkeit etwas schwächer, denn ich arbeite häufiger mit dem Klavier als mit der Stimmgabel. An guten Tagen kann ich den Kammerton aus dem Stegreif singen. Häufiger singe ich jedoch as4 oder g4.

 

Der Nutzen des relativen Gehörs

Doch wozu solltest du überhaupt an deinem Gehör arbeiten?

Ein entwickeltes, relative Gehör bietet dir einige Vorteile für den Gesang:

  • Du entwickelst ein sicheres Gefühl für Intervalle und Tonarten. In der Musik geht es nicht um die absoluten Tonhöhen, sondern um die Abstände zwischen den Tönen (Intervalle). Erst aus ihnen bilden sich Spannung und Entspannung, die die Musik so faszinierend machen.
  • Du kannst die Melodie von neuen Songs sehr schnell erfassen. Weil du hörend die Intervalle erkennst und ein Gespür für die Spannungen zwischen den Tönen entwickelst.
  • Du kannst still, allein mit deiner Vorstellungskraft üben. Die Fähigkeit, Töne innerlich zu hören, ohne sie zu summen oder zu singen, wird in unserer Zeit immer wichtiger. Ich habe auf diese Weise auf langen Zugfahrten schon ganze Sets gelernt. Fürs erste Angucken eines neuen Songs oder das Aufwärmen altbekannter ist es immer gut und du nutzt „tote Zeit“.
  • Du kannst eine neue Melodie sicher vom Blatt singen bzw. dir vorstellen, obwohl die Tonart, in der du singst nicht mit der Tonart übereinstimmt, in der die Melodie notiert ist. Die Melodie von „Leise rieselt der Schnee“ bleibt die gleiche, egal ob du sie in D-Dur singst oder in G-Dur.

 

All das hilft dir, ein besserer Sänger zu sein!

 

Das Training des relativen Gehörs

Jetzt, wo ich dich hoffentlich richtig neugierig gemacht habe auf das relative Gehör, fragst du dich sicherlich, wie du es am besten trainieren kannst.

Aus meiner Sicht führt nicht ein einzelner Weg zum Ziel. Es ist vielmehr eine Kombination verschiedener Wege.

  • Arbeite viel mit der Stimmgabel. Durch die Einschränkung eines einzigen Starttons wirst du unabhängig und schulst deine Tonvorstellung.
  • Sing viele Lieder, um zahlreiche melodische Wendungen kennenzulernen.
  • Sing immer wieder neue Lieder, um deinen musikalischen Horizont zu erweitern.
  • Sing viel vom Blatt, um deine musikalische Vorstellungskraft zu trainieren.
  • Übe Intervalle zu singen. Sie sind das Rückgrat der gesamten Gehörbildung.

Das Wichtigste ist, dass du Geduld mit dir selbst hast. Über einen längeren Zeitraum regelmäßig geübt, stellen sich bald Erfolge ein.

 

Fazit

Um auf die eigentliche Schülerfrage zurück zu kommen: Nein, als Sänger brauchst du kein absolutes Gehör, um gut zu werden oder um ein richtiger Sänger zu sein.

Viel wichtiger ist das relative Gehör, dass deine Tonvorstellung fordert und dir die Spannungsverhältnisse in der Musik verdeutlicht. Und das Beste: Das relative Gehör lässt sich trainieren.

 


Verwandte Artikel:

MerkenMerken

Du fandest diesen Artikel interessant oder hilfreich? Dann teile ihn!

1 Kommentar

Hinterlasse ein Kommentar

An der Diskussion beteiligen
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert