Es gibt kein Richtig und Falsch beim Warm Up
Oft werden ich nach den besten Einsingübungen gefragt. Ich antworte immer mit „Kommt drauf an.“ Die ultimative Übung gibt es nicht. Denn: Es gibt kein Richtig und Falsch dabei. Warum ich das ungemein befreiend finde und wie du das richtige Einsingen für dich entwickelst, erfährst du in diesem Artikel.
Was ist Richtig und Falsch
Lass mich die Grundannahme noch einmal wiederholen:
Es gibt kein Richtig oder Falsch beim Einsingen.
Denn, was ist „richtig“ oder „falsch“? Richtig und Falsch implizieren, dass es einen Weg gibt, wie man eine bestimmte Sache tut.
2 Sachen stören mich an diesem Statement:
- Wer ist „man“?
- „Ein“ Weg?
„Man“ benutzen wir im Deutschen, um die Gesellschaft zu beschreiben. Der Duden beschreibt es so: „irgendjemand oder eine bestimmte Gruppe von Personen (im Hinblick auf ein bestimmtes Verhalten, Tun)“. Die Anderen sagen also „das macht man so“. Es sind fremde Normen, die von deiner Umgebung an dich herangetragen werden. Fremde Bedingungen, die du erfüllen sollst, ob es gut für dich ist, oder nicht.
Wir benutzen „man“ aber auch, um über uns als Sprecher in der dritten Person reden zu können. Es ist ein Ersatz für „Ich“ oder „Wir“. Was passiert, wenn ich das im eingangs gestellten Satz austausche?
„Richtig und Falsch implizieren, dass es einen Weg gibt,
wie ICH eine bestimmte Sache tue.“
Aha. Das klingt schon besser.
Jetzt schauen wir, was wir aus dem „einen Weg“ machen. Ein Weg. In Worten und Zahlen: 1.
Ehrlich gesagt ist das …
Ich möchte das berühmte Sprichwort jetzt nicht benutzen, aber wir wissen alle aus unseren täglichen Erfahrungen: Es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Niemals ist eine Situation nur schwarz-weiß. Formuliere ich den Satz nun um, kommt dabei heraus:
„Es gibt mehrere Weg, wie ich eine bestimmte Sache tue – und das ist gut so.“
Bevor wir das auf den Gesang und das Warm Up übertragen, lass uns die Wörter „richtig“ und „falsch“ noch einmal unter die Lupe nehmen. Damit wir auf derselben Seite sind.
Richtig
Der Duden hält ein paar interessante Bedeutungen für dieses Wort bereit.
Die erste Bedeutung klingt ganz ok: „als Entscheidung, Verhalten o. Ä. dem tatsächlichen Sachverhalt, der realen Gegebenheit entsprechend“.
Die nächste Möglichkeit ist: „keinen [logischen] Fehler oder Widerspruch, keine Ungenauigkeiten, Unstimmigkeiten enthaltend“. An sich ist das nicht verkehrt. Aber was am Singen ist wirklich logisch – abgesehen von den anatomisch-funktionalen Gegebenheiten? Ist „hoch singen, tief denken“ logisch? Oder bezeichnet „sing mit einem Gefühl des Lächelns“ genau den Prozess?
Dann gibt es die Möglichkeit, das Wort so zu deuten: „den Erwartungen, die an eine bestimmte Person oder Sache gestellt werden, entsprechend; wie es sich gehört; ordentlich“. Und schon tritt das berüchtigte „man“ wieder in Aktion. Siehe oben.
Da passt diese Bedeutungsebene schon besser zum Singen: „für jemanden, etwas am besten geeignet, passend“. Das ist im Gesang der einzige Kontext, in dem das Wort „richtig“ korrekt ist. Dieser Jemand, von dem die Rede ist, solltest immer DU sein. Der Sänger.
Falsch
Machen wir noch die Gegenprobe und schauen, was der Duden zum Wort „falsch“ zu sagen hat.
Da steht: „(einer echten Sache gleicher Art) künstlich und meist täuschend ähnlich nachgebildet, imitiert“, „gefälscht“ und „dem tatsächlichen Sachverhalt, der realen Gegebenheit nicht entsprechend“. In der Summe: Nicht authentisch. Im Populargesang will jeder Musiker er/sie selbst sein. Nicht authentisch zu sein, vielleicht sogar eine Kunstpersona für sich zu erschaffen, ist mit viel Kritik verbunden. Eine Persona wirkt nur dann als Illusion echt, wenn sie stark überzeichnet ist. Kiss, Lady Gaga und Marilyn Manson fallen mir dazu ein.
Dann treffen wir wieder auf „man“: „nicht so, wie es sein sollte; fehlerhaft“. Wo finde ich die Gesangspolizei gleich nochmal?
Die folgende Bedeutung können wir in den Künsten getrost vergessen: „nicht der Wahrheit entsprechend; irreführend; betrügerisch“. Denn was, bitte schön, ist im Gesang „die Wahrheit“? Auch wenn die Klassiker gern behaupten, der klassische Gesang ist der einzige Wahre. Solche Phrasen halten sich doch nicht ernsthaft noch im 21. Jahrhundert? Was haben die denn geraucht?
Und dann finden wir folgenden Kontext: „einer gegebenen Situation nicht angemessen; unangebracht“. Im Gesang trifft das wirklich zu. Denn wenn etwas für einen Sänger oder die Situation, in der er sich befindet, nicht angemessen ist, ist es für ihn/sie falsch.
Ein Zwischenfazit zu Richtig und Falsch
Im korrekten Kontext ist es auch im Gesang sinnvoll, von Richtig und Falsch zu sprechen. Nämlich, wenn etwas
a) für dich als Sänger geeignet ist oder nicht
b) für deine Persönlichkeit und deine derzeitige Situation angemessen ist oder nicht
Das beinhaltet, dass du dir selbst keinen Schaden zufügst. Was du singend tust, soll dir und deiner Stimme gut tun. Du darfst dich mit ihr wohlfühlen.
Weiterhin bedeutet es: Nur DU kannst wissen, was für dich angemessen ist. Nur DU kennst deine Bedürfnisse.
Letztlich heißt es auch, du darfst individuell sein und deine Persönlichkeit zeigen. Authentizität zählt zu den erklärten Zielen der Popularmusik.
Diese Hinweise sollten meiner Meinung nach in jedem Gesangsstudio der Republik hängen. Denn sie passen nicht nur für das Einsingen.
Ich möchte dich noch auf eine Sache hinweisen: Wenn du bei dem Thema „Richtig und Falsch“ jetzt eine Erkenntnis hattest, heißt das nicht, dass du nun selbst Moralapostel spielen darfst. Schreibe anderen Sängern nichts vor. Tappe nicht in die „Entweder so oder gar nicht“-Falle. Bleib bei dir selbst. Bring anderen Sängern denselben Respekt entgegen, den du dir von ihnen wünschst.
Wie ein angemessenes Warm Up aussieht
Nicht jeder Sänger kann (schon) mit dieser totalen Freiheit umgehen. Deshalb möchte ich mit dir einen Blick darauf werden, wie ein angemessenes Warm Up aussehen kann. Betonung auf „kann“, bitte. Vielen Dank!
Ein angemessenes Warm Up ist individuell. Es orientiert sich an dir und deiner Stimme. An deinen Fertigkeiten als Sänger. An deinen allgemeinen oder tagesaktuellen Bedürfnissen. Und es orientiert sich am Zweck des Einsingens.
Deine individuellen Bedürfnisse als Sängers
- Auf welchem Level singst du? Ein Chorsänger hat andere Bedürfnisse als ein Solosänger. Ein Klassiker andere als ein Popsänger. Ein Hobbysänger andere als ein Profi.
- Was fällt dir leicht beim Singen? Ein Warm Up eignet sich sehr gut, um dir deiner Stärken bewusst zu werden. Es gibt genügend Gelegenheiten, zu denen du dich schlecht und unzureichend fühlst. Das Warm Up zählt nicht dazu. Mach deine easy-going-Lieblingsübungen.
- Und gleichzeitig: Was fällt dir schwer beim Singen? Ein chronischer Beißer braucht andere Warm Up-Übungen als ein chronischer Bruststimme-raufziehen-bis-der-Hals-weh-tut-Sänger. Ein Sänger, der vor Schüchternheit nur so laut wie ein Gänseblümchen singt, benötigt andere Übungen als ein Nuschler.
- Wie gesund bist du heute? Damit meine ich vor allem deine tatsächliche körperliche und geistige Gesundheit. Mit Husten brauchst du ein anderes Einsingen als bei völliger Gesundheit.
- Wie viel Kraft hast du heute? Diese Frage bezieht sich im Gegensatz zur vorherigen auf deinen Lebensstil und deine Umstände. Nach drei Stunden Schlaf hast du andere Kraftreserven als nach einem entspannten Urlaub. Vier Tassen Kaffee können einen Kaffeeliebhaber erst richtig beleben, während ein ausgewiesener Tee-Kenner Herzprobleme und Schnappatmung hat.
Der Zweck des Warm Ups
Worauf soll dich das Einsingen vorbereiten? Damit verbinden sich die Fragen nach der Tageszeit und der Dauer.
- Singst du dich vor der Gesangsstunde ein?
- Für einen Auftritt? Für nur einen Song oder eine 2stündige Setlist?
- Für eine Rede oder einen Vortrag? Ja, auch in diesem Fall ist das Aufwärmen der Stimme sinnvoll.
- Wann singst du dich ein? Frühmorgens, während deine Mitmenschen noch schlafen? Im Laufe des Tages? Abends nach einem anstrengenden Tag? Oder kurz vor einem Auftritt? Der Zeitpunkt des Einsingens hat Auswirkungen auf deine körperliche und geistige Wachheit und Konzentrationsfähigkeit.
- Wie lang brauchst du? Wann kannst du sagen, „So, jetzt bin ich warm gesungen?“ Die Dauer darf gern von Tag zu Tag verschieden sein.
Denn die obersten Ziele des Warm Ups sind:
- Die Muskeln im Körper sind aufgewärmt, gut durchblutet und gelockert.
- Der Geist ist fokussiert und bereit.
- Deine Stimme und dein Körper sind gesund.
Wie du DEIN angemessenes Warm Up entwickelst
- Fang mit den Übungen an, die du schon kennst.
- Frag dich, ob sie dir gut tun und du dich mit ihnen wohl fühlst. Es geht hier um das Einsingen, nicht um die Arbeit an deiner Gesangstechnik. Beim Einsingen darfst du dich wohlfühlen und in die passende Stimmung fürs Singen kommen. Die harte Arbeit kommt später.
- Frag andere Sänger, wie sie sich einsingen. Wenn sie dir mit „man macht das so und so“ kommen, ignorier es – bis auf Hinweise für die maximale Höhe, Tiefe und Lautstärke. Du weißt schon: Füge dir selbst keinen Schaden zu. Solche Hinweise helfen dir dabei. Den Rest vernachlässigst du. Du brauchst keine fremden Normen und Bedürfnisse.
- Suche in der Bibliothek oder im Musikalienhandel deines Vertrauens nach Büchern, CDs und DVDs mit Einsingübungen. Informiere dich, so dass du die richtigen Entscheidungen für dich treffen kannst. Schließe von vornherein nichts aus, was du nicht selbst ausprobiert hast oder was dir dein Gesangslehrer verbietet. Warum er das darf? Weil er dich und deine Stimme kennt. Nicht so gut, wie du dich selbst kennst. Aber besser als jeder andere Mitmensch. Im besten Fall hilft er dir, deine Ziele zu erreichen – und arbeitet so in deinem Interesse.
- Wenn du technikaffin bist: Es gibt Apps mit Eingingübungen, vor allem englischsprachige. Die darfst du selbstverständlich auch ausprobieren.
- Lege dir eine Sammlung von 5-10 Übungen zu für all die Bereiche, die du im Warm Up abgreifen möchtest. Zum Beispiel (und das ist keine erschöpfende Liste): mentales Ankommen, Körper, Atmung, Höhe, Tiefe, Mitte, Artikulation, Lockerheit, Ausdruck, Dynamik. Die Bereiche dürfen sich überschneiden. In welchem Format du diese Sammlung anlegst, ist deiner Ordnungsliebe überlassen – vom Zettelkasten bis zur Notiz im Handy geht alles. Und nein, „das merk ich mir alles“ ist nicht in Ordnung. Du willst deinem Gehirn Arbeit abnehmen, damit es sich auf das Einsingen konzentrieren kann. Mach ihm keine zusätzliche Arbeit.
- Probier in jedem Einsingen etwas aus. Würfel die Übungen zusammen. Halte dich an eine feste Reihenfolge. Oder entscheide spontan. Die Auswahl und Anzahl der Übungen ist deiner Persönlichkeit überlassen. Orientiere dich für maximale Individualität an den oben genannten Fragen unter der Überschrift „Wie ein angemessenes Warm Up aussieht“.
- Wichtig: Hör auf dein Körpergefühl. Singen darf sich gut anfühlen.
- Und das Tollste? Du darfst dich jeden Tag, jede Woche, jeden Monat neu entscheiden. Ich weiß, ich weiß. Nicht jeder trifft gern Entscheidungen. Dann mach es so: Triff eine Entscheidung für 4 Wochen. Zieh sie durch. Wenn etwas nicht passt, wird dein Körper es dich ganz schnell wissen lassen. Dann kannst du die betroffene Übung austauschen. Bis dahin:
Weitere Artikel auf anderen Gesangsblogs
- Auf dem Vocal Ability-Blog kannst du auf englisch lesen, wie sich Gesangslehrer Brian Lee so einsingt. Hier entlang.
- Im Stimmsinn-Blog erzählt die Gesangslehrerin Anna Stijohann von ihren Erfahrungen mit Richtig und Falsch im Gesangsunterricht: hier.
Fazit
Beim Thema Warm Up gibt es kein Richtig und kein Falsch, kein „Entweder so oder gar nicht“. Die ultimativ beste Einsingübung existiert nicht, denn jedes Einsingen erfüllt so unterschiedliche Zwecke, wie es Sänger gibt. Stattdessen gibt es jedoch deinen Weg. Ich lade dich zum Experimentieren ein. Die Fragen zu deinen Bedürfnissen und dem Zweck des Einsingens helfen dir, das für dich passende Einsingen zusammenzustellen.
Denn wie Frankie schon sang: „I did it my way.“
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