Welchen Gesangsunterricht soll ich nehmen – Pop oder Klassik?

Wenn du mit dem Gedanken spielst, Gesangsstunden zu nehmen, fragst du dich bestimmt, welchen Gesangsunterricht du nehmen sollst. Macht es einen Unterschied, ob du zu einem klassischen Gesangslehrer gehst oder zu einem Vocal Coach aus der Popularmusik? Ich möchte dir helfen, diese Frage für dich zu beantworten.

 

“Macht es einen Unterschied?” Ja, denn es gibt Unterschiede zwischen klassischem und Popgesang.

Viel aufschlussreicher sind die Bedenken, die hinter dieser Frage stehen: “Mach ich mir meine Stimme kaputt, wenn ich den falschen Gesangsunterricht nehme? Verbau ich mir meinen Ausdruck und meine Authentizität im Pop, wenn ich zu einem klassischen Gesangslehrer gehe?” Denn die meisten Sänger möchten heutzutage Pop, Rock, Musical, Jazz, Gospel, Folk usw. singen.

Um zu verstehen, wo diese Unsicherheit herkommt, machen wir einen Abstecher in die Musikgeschichte und die Ausbildung von Gesangslehrern.

 

Ein kurzer Abriss der Musikgeschichte

Gesangsunterricht hat schon immer Geld gekostet. Er stand daher früher nur Besserbetuchten offen. Klassische Musik zu kennen, galt als Zeichen von Bildung. Sie auch spielen bzw. singen zu können, ermöglichte talentierten Hobbymusikern aus der Unterschicht den sozialen Aufstieg. Sie verhalf ihnen zu mehr Sicherheit und Geld im Leben.

Im Kontrast dazu steht die Musik der einfachen Arbeiter. Sie wollten in ihrer spärlichen Freizeit Musik hören und spielen, die ihnen Spaß machte, sie von ihrem harten Alltag ablenkte und für die sie nicht erst studieren mussten, um sie zu verstehen.

Die Musik des gemeinen Volkes wurde mündlich weitergegeben. Erst im 19. Jahrhundert begannen Musikforscher, sie zu notieren und so einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Die Erfindung von Grammophon und Mikrofon im 19. und 20. Jahrhundert und die Tonaufzeichnungen führten außerdem dazu, dass Musik unabhängig wurde von den Musikern, die sie spielten. Plötzlich konnte man Musik konsumieren, ohne mit den Musikern am selben Ort zu sein. Dadurch verbreiteten sich z.B. die US-amerikanischen “race records”, die Musik der schwarzen Musiker, auch unter weißen Zuhörern.

 

Was hat das alles mit Gesangsunterricht zu tun?

Nun, die Ausbildung von Gesangslehrer lief viele Jahrzehnte informell ab. Der angehende Lehrer lernte von seinem Gesangslehrer. Erst im 18. und 19. Jahrhundert fasste die Gesangspädagogik an den Universitäten, die aufgrund der Kosten nur Menschen aus besseren Verhältnissen offen standen, Fuß – und blieb darauf ausgerichtet, was die Oberschicht hören wollte: klassische Musik.

Diese Dominanz des klassischen Gesangs führte dazu, dass (a) die Ausbildungsprogramme für angehende Gesangslehrer klassisch ausgerichtet und (b) sehr viele Gesangslehrer klassisch ausgebildet wurden. Dieser Zustand dauert noch immer an, denn die Möglichkeiten, Popgesang zu studieren, sind leider immer noch überschaubar.

Gesangslehrern, die so ausgebildet wurde, kannst du nicht vorwerfen, dass sie klassischen Gesang höher bewerten als Popmusik. Es wurde ihnen so beigebracht. Du kennst das sicherlich aus deinem Alltag. Was du lange und oft genug hörst, übernimmst du früher oder später als deine persönliche Meinung. Die veränderst du auch nicht so schnell. Genauso ist es mit den Unterrichtsmethoden, Hörgewohnheiten und Meinungen vieler Gesangslehrer.

 

Das Problem

Popsänger, die sich für Gesangsunterricht interessieren, hören immer noch: “Mit klassischen Gesang kannst du alles singen.” 

Nein, kannst du nicht.

Die Ratgeber vergessen leider, dass ihr klassischer Musikgeschmack nicht mehr dem allgemeinen Geschmack entspricht, und dass diese Aussage mit großer Wahrscheinlich falsch ist. Denn neben der Klassik gibt es mittlerweile so viel mehr Musikstile, die ganz andere Aspekte der Musik wertschätzen.

 

Die Technik entscheidet

“Unsere Kollegen aus dem Tanz wussten es besser. Sie wussten, dass ein Balletttänzer, der steppen lernen wollte, die Stepptechnik lernen musste, um in diesem Tanzstil Erfolg zu haben. Die Technik geht dem Repertoire immer voraus.”

Robert Edwin. Aus: Matthew Hoch: “So you Want To Sing CCM (Contemporary Commercial Music)”. Rowman & Littlefield Lanham, 2018. S.8f. Übersetzung: Jessica Pawlitzki

 

Nur weil du einen Popsong singst, bedeutet es nicht, dass du auch Pop singst. Wenn du falsche Stilmittel anwendest und deine Stimme nicht passend zum Repertoire einsetzt, dann singst du zwar einen Popsong, aber nicht Pop.

Die Technik, wie du singst, muss zur Stilistik, was du singst, passen. Es gibt unterschiedliche Stile. Daher ist es nur logisch, dass diese unterschiedliche Techniken benutzen . Es gibt keine allgemein gültige Norm. Kein “one size fits all”.

 

Die Lösung

der Frage, welchen Gesangsunterricht du nehmen solltest, lautet daher:

 

Welche Art Musik magst du? Welche Art Musik möchtest du singen?

 

Lern die Gesangstechnik, die dir hilft, das zu singen, was du singen magst. Die deiner Stimme ermöglicht, korrekt zu funktionieren. Die dir die passenden Stilmittel zeigt. Die deinem Repertoire und deinen Zielen und Träumen dient.

Es ist tatsächlich SO einfach.

 

Fazit

Macht es einen Unterschied, welchen Gesangsunterricht du nimmst? Die Musikgeschichte zeigt, dass der klassische Gesangsunterricht jahrhundertelang die richtige Antwort zur Stimmbildung war. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die zeitgenössischen Musikstile sind längst beliebter als die Klassik. Und allmählich denken auch die Gesangslehrer und Vocal Coaches um. Deshalb nimm den Unterricht, der zu deinem Gesangsstil passt und dich dort weiterbringt.

Welchen Stil willst du singen bzw. singst du? Was fasziniert dich daran? Und: nimmst du Unterricht?

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2 Kommentare
  1. Christiane sagte:

    Es gibt Popgesang erst seit es Mikrofone gibt. Der klassische Gesang und dessen Ideal hat sich auch aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, das der Sänger über ein ganzes Orchester singen muss.

    Antworten
    • Jessica Pawlitzki sagte:

      Hallo Christiane,

      „Es gibt Popgesang erst seit es Mikrofone gibt.“

      Es kommt darauf an, was du unter „Popgesang“ verstehst. Die Kommerzialisierung, den Mainstream, die Megatouren, die Pop- / Rock- / Hip Hop-Stars von heute? Da hast du Recht. Die gibt es erst, seit es Mikrofone gibt.

      Unter „Popgesang“ verstehe ich jedoch auch den Gesang des Volkes (lat. populus). Den gab es lange bevor es klassischen Gesang gab, in Form von Volksliedern in der westlichen Welt und in allen Gesangsformen, die in den Bereich der Musikethnologie fallen.

      Doch selbst wenn man nicht bis zu Adam und Eva zurückschauen möchte, gab es auch vor Erfindung des Mikrofons Gesangsformen, die eindeutig nicht klassisch waren, z.B. in der Revue und im Vaudeville, den Urvätern des heutigen Musicals, das Spiritual der afro-amerikanischen Sklaven seit dem 17. Jahrhundert, den Ur-Country der Appalachen-Bewohner, den Ur-Blues der reisenden Musiker, die Gesänge der Ureinwohner in den zahllosen Ecken des Planeten, die selbst heute noch mündlich weitergegeben werden.

      Ohne diesen Gesang des Volkes gäbe es den Popgesang in seiner heutigen Form nicht. Popgesang allein auf das 20. und 21. Jahrhundert zu beschränken, verschleiert und reduziert sein wahres Wesen.

      „Der klassische Gesang und dessen Ideal hat sich auch aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, das der Sänger über ein ganzes Orchester singen muss.“

      Das ist korrekt. Im Verlauf vom Barock über die Klassik bis in die Romantik wurden die Orchester sukzessive größer und lauter. Die Sänger mussten mithalten und entwickelten Strategien, die Formanten in ihren Stimmen auf natürliche Weise zu verstärken.

      Liebe Grüße, Jessica

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