Singen ist Loslassen

„Make the Choice to Cherish Your Voice“ – das Motto des World Voice Day 2018 könnte nicht bedeutsamer sein. Triff die Entscheidung, deine Stimme wertzuschätzen.

Deshalb möchte ich ein paar Gedanken mit dir teilen zu einem Thema, dass in der Blogumfrage zur Sprache kam: „Meine größte Herausforderung beim Singen ist es, den Kopf auszuschalten und mich wirklich frei zu fühlen.“ Doch wie geht dieses Loslassen?

 

Singen ist Loslassen

Wenn du singst, erschaffst du mithilfe von Luft und Muskelarbeit Töne und Geräusche. Das ist magisch, wenn du mich fragst.

Doch leider machst du, mache ich, machen wir uns bei diesem einfachen Prozess kirre. Ich muss dieses tun. Das sollte ich vermeiden. Und dieses darf ich nur manchmal tun. Müssen und Sollen diktieren das Sängerleben. Das Resultat klingt bestenfalls gut, aber niemals wirklich brillant. Es ist gestellt, geformt, geführt.

 

Justin Petersen formulierte das kürzlich so:

„The harder we try to make thinks right, the more we get in our way.“

Je härter du arbeitest, um die Dinge richtig zu machen, desto mehr stehst du dir im Weg. Es klingt paradox, und doch beobachte ich es immer wieder bei meinen Sängern, aber auch bei mir selbst.

 

Denk einmal darüber nach, wann dich Musik so richtig berührt hat. Wahrscheinlich war das, als du einfach nur gefühlt hast. Du hast nicht analysiert, nicht kritisiert und nicht manipuliert. Du hast dich durchdringen lassen von der Musik. Da kommt übrigens das Wort „Persönlichkeit“ her: per sonare, hindurch-klingen.

An dieser Stelle wäre es für mich kinderleicht, diesen Artikel zu beenden. Ich gebe dir einfach den Rat, dich der Musik hinzugeben, wenn du singst, und schon klingst du toll.

 

Aber … da ist dieses kleine Gefühl. Es nagt an dir. Es verunsichert dich. Du zweifelst an deinen Freunden und deinen Liebsten, wenn sie dich loben. Warum? Weil dir Sicherheit fehlt. Du vertraust dir nicht. Dein Umfeld beschützt dich nicht. Du fühlst dich nicht geborgen.

Beim Singen ist das der Supergau. Doch der Einzige, der dir diese Sicherheit geben kann, bist du selbst. Alles andere fühlt sich falsch an und damit das genaue Gegenteil von tiefer Beseeltheit.

 

Loslassen beim Singen

Ich denke oft darüber nach, wie ich meine Sänger dazu bringe loszulassen. Und lande letztendlich immer wieder am selben Punkt: Ich kann es ihnen nicht geben. Sie dürfen selbst draufkommen.

Deshalb hab ich dir ein paar Ideen aufgeschrieben. Hoffentlich führen dich ein oder zwei Sachen in die richtige Richtung.

 

Gib dich dem Flow hin

Der Flow ist ein mysteriöses Ding. Ein heiliger Gral der Musiker. Sänger können ihm aber auf eine andere Art nahekommen: über den Atemfluss. Erst durch den Atem können wir singen.

Beobachte deinen Atem beim Singen. Schau, wie er aus dir herausströmt. Wie der Support ihn kräftigt. Wie er den Klang trägt. Wie dein Atem den Klang in den Raum hineingibt.

 

Geh dir aus dem Weg

Vergleiche führen nie dazu, dass du besser singst. Dein Wachstum lässt sich nicht von außen manipulieren. Kein Höher, Lauter, Schneller-Vergleich mit anderen Sängern macht dich zu einem besseren Sänger, wenn der Samen dazu nicht schon in dir aufgekeimt ist.

Genieße einfach mal. Vergleiche dich nicht mit Anderen. Nicht mit dir selbst. Nicht mit deiner gestrigen Performance und erst recht nicht mit deinem Gesang von vor zehn Minuten.

 

Vertrau dir

Selbstvertrauen baust du mit vielen kleinen, positiven Schritte in die richtige Richtung auf. Deswegen ist es für Sänger so wichtig, gute Gewohnheiten zu entwickeln.

Selbstvertrauen in deine Fähigkeiten als Sänger entwickelst du zum Beispiel mit einer Übe-Routine. Mit wiederholtem, bewusstem Üben baust du ein Sicherheitsnetz auf. Kopf aus, Körper an. Dein Gedankenkarussell hörst auf sich zu drehen und du kannst dich der Musik hingeben.

 

Nimm dich selbst an

Kein Sänger mag seine Stimme, wenn er sie zum ersten Mal hört. Das ist normal. Trotzdem kannst du lernen, sie zu mögen.

Hör dir eine Aufnahme deines Gesangs an. Nenne eine Sache, die du an deiner Stimme gut findest. Das dürfen gern Kleinigkeiten wie ein einzelner Ton sein, oder der Klang eines bestimmten Vokals. Steh zu deinem Klang.

Das bedeutet nicht, dass du zufrieden die Hände in den Schoß legst. Aber steh zu deiner Stimme. Sie ist ein Teil von dir. Sie zu verleugnen bedeutet, dich selbst zu verleugnen. Wie sollst du da frei singen können?

 

World Voice Day 2018 Das Foto zeigt das Logo des WVD 2018, ein Herz umgeben von fünf farbigen Händen.

Das Motto des World Voice Day 2018

 

Betrachte die Situation nüchtern

Wann möchtest du den „Kopf ausschalten“ und „loslassen“ können? Im Gig, der Probe, beim Üben, beim Soundcheck?

Du musst dich nicht in jeder Minute, in der du singst, voll und ganz der Musik hingeben. Nicht in jeder Situation ist das angebracht. Beim Üben und beim Soundcheck geht es zum Beispiel vielmehr um Präzision, um Checklisten und darum, alle Unklarheiten zu klären.

 

Schütze deinen Raum

In einer unbekannten Umgebung kannst du dich nicht gehen lassen. Wenn du dich beim Singen emotional ausdrücken möchtest, ist ein geschützter Raum die bessere Wahl. Was genau dieser „Raum“ ist, darfst du flexibel definieren: Ist er physisch? Sind es deine Mitmenschen? Benötigst du emotionalen Schutz?

Probier aus, wie du diesen vertrauensvollen Zustand fördern kannst. Schließ Zimmertüren und Fenster. Gestalte dir den Raum gemütlich. Nutze gedimmtes Licht. Bring vor dem Singen alle störenden Gedanken zu Papier. Schalte das Handy aus. Sing, wenn du allein zuhause bist. Verbanne Audio-Recorder aus dem Raum. Sing vor Menschen, die es gut mit dir meinen. Praktiziere eine Visualisierungstechnik. Stell den Backing Track lauter. Erlaube dir im Gig, ein, zwei Songs mit geschlossenen Augen zu singen.

 

Du bist deine Stimme

Von Geburt an bist du mit deiner Stimme verbunden. Stimmliche Äußerungen sind so wichtig wie das Atmen. Doch im Gegensatz zum Atmen kannst du deine Stimme positiv oder negativ einsetzen. Das Negative verschafft dir im ersten Moment Erleichterung – du hast es dir von der Seele gesungen oder geredet. Das Positive kann aber noch mehr: Es macht dich glücklich, weil du jemand anderen glücklich gemacht hast.

Schenk einem Anderen das Geschenk deiner Stimme. Dieses Geschenk kann ein Lied, auch nur eine Strophe, ein Gedicht, ein liebevolles Wort sein. Stell dich vor diese Person, oder ruf sie an, oder nimm eine Sprachnachricht auf, oder öffne das Skype-Fenster. Kurzum: verbinde dich mit dieser Person. Bitte sie, dir ein paar Minuten lang nur zuzuhören, dich nicht zu unterbrechen und einfach anzunehmen, was du zu geben hast. Und dann konzentrier dich auf das Geschenk, dass du dieser Person gibst.

 

Mach dir bitte keine Gedanken, falls diese Person dich kritisiert. Der Gedanke des Schenkens zählt. Wie der Empfänger mit dem Geschenk umgeht, geht dich nichts an.

„What other people think of you is none of your business.“

Deine Aufgabe ist das Schenken, das Verbinden mit dieser Person mittels deiner Stimme.

 

Singen macht glücklich

Die gesunde Wirkung von Singen und Musik ist bereits hinreichend belegt und studiert worden. Aber wie kannst du sie für dich selbst nutzen? Indem du zunächst einmal nur bist, nicht wirst.

Leg für einen Moment dein Streben nach Perfektion, nach Weiterentwicklung, nach „Aber ich muss doch …“ ab. Sing einfach ein paar Minuten lang. Dein Lieblingslied, oder auf Silben, oder wonach dir gerade ist. Spür dabei in dich hinein. Spür die Endorphine. Spür das Adrenalin. Gib dich dem Gefühl hin, ohne es zu hinterfragen.

Im Buch „Jeder kann singen!“ findet du viele kurze Übungen, falls du mehr Anleitung möchtest.

 

Es ist übrigens ok, wenn dein Körper dir sagt, dass er aufgeregt ist. In den ersten 5 Minuten meines täglichen Übens habe ich immer ein bisschen Herzkasper. Das Blut rauscht mir in den Ohren, mein Herz pocht schnell, die Knie zittern ein wenig. Anfangs hab ich mich gefragt, was ich falsch mache. Atme ich zu tief? Bin ich zu hektisch? Was stimmt hier nicht? Irgendwann kam ich auf die Idee, es einfach anzunehmen. Diese Phase geht nämlich genauso schnell auch wieder vorbei.

 

Akzeptiere das Risiko

Singen ist ein Seelenstriptease. Deine Stimme ist mit dem Körper verbunden. Das bedeutet auch: wenn du singst, kommunizierst du. Du gibst etwas von dir preis: deine Meinung zu einem Thema, der im Song angesprochen wird oder deine Auswahl an Musik. Wer Latin singt, schließt zumindest für den Moment Rockmusik aus.

Die Gefahr dabei ist, dass dein soziales Umfeld mit deiner Message nicht zufrieden ist. Sie weisen dich zurück, machen sich über dich lustig oder wollen dich von der Richtigkeit der Gruppenmeinung (und damit der Falschheit deines Standpunkts) überzeugen.

Das macht Angst, ich weiß. Abhilfe schafft da nur ein Frontalangriff.

 

Akzeptiere deine Eigenverantwortung. Was in deinem Gesang zählt, ist deine Meinung. „Sing it like you mean it“, zu deutsch „Sing, als ob du es ernst meinst“.

 

 

Ich hoffe, dass du von den oben genannten Möglichkeiten ein paar testest. Nicht nur einmal, sondern mehrmals und über einen längeren Zeitraum. Gute Sachen kommen zu denen, die die Zeit abwarten und am Ball bleiben.

 

Fazit

Der Weg vom verkopften Singen zum gelösten Singen ist lang. Ich will das gar nicht schön reden. Er ist steinig und voller Abzweige, die in Sackgassen enden, weil etwas für dich nicht funktioniert hat. Die Tatsache, dass wir als Sänger immer wieder danach streben, zeigt mir, dass dieser Weg es jedoch Wert ist. Weil deine Stimme es Wert ist.

 


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1 Kommentar
  1. Isabelle sagte:

    Danke für den Artikel, es tut gut einen Ort zu finden an dem eine helfende Nachricht für jeden steht der danach sucht. Ich werde beginnen mich selbst anzunehmen und mich besser auszuhalten. Zu mir stehen. Die Verbindung verstehen…

    Antworten

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