Singen lernen – kann das jeder?
Hartnäckig hält sich das Gerücht, zum Singen brauche man Talent. Ich erkläre dir, welche anderen Faktoren beim Singen Lernen bedeutend wichtiger sind als Begabung und dass jeder Mensch singen lernen kann.
Das Märchen vom Talent
Leider spukt in den Köpfen der Menschen immer noch das Gerücht herum, dass man die Begabung zum Singen in die Wiege gelegt bekommt. Mit anderen Worten, du wirst damit geboren – oder eben nicht.
Falsch!
Jeder Mensch kann singen. Und jeder kann singen lernen.
Gleiche Voraussetzungen für alle
Jeder Mensch besitzt die gleichen anatomischen Voraussetzungen zum Singen: u.A. Lunge, Gehirn, Kehlkopf, Mundraum. Diese Voraussetzungen sind zwingend erforderlich. Das Instrument muss einsatzbereit sein.
Siehst du von seltenen medizinischen Sonderfällen ab, hat das Jeder.
Doch das ist nur die Basis.
Zum Singen benötigst du noch ein weiteres Handwerkzeug: deinen Willen.
Du musst den Willen haben, dich singend zu äußern. Das Verlangen, dich auszudrücken mit gesungenen Tönen und Wörtern, die die Herzen deiner Zuhörer erreichen.
Als Sänger wirst du gehört.
Dein Instrument ist immer zur Stelle
Dein Instrument steckt in deinem Körper. Du kannst die Stimme nicht anfassen wie ein Klavier. Du kannst sie nicht von außen betrachten wie eine Gitarre.
Dein ganzer Körper ist dein Instrument – und der Bediener sitzt mittendrin.
- Wenn du mit Rückenschmerzen aufwachst, fällt dir die Tiefatmung schwer. Denn alle Muskeln fühlen sich verkrampft an.
- Wenn du Angst vor einem Vorsingen hast, schnürt sich dein Hals zusammen und das Atmen fällt dir schwer. Das Lampenfieber, ein geistiger Zustand mit körperlichen Symptomen, blockiert deine Fähigkeit, zu singen.
- Wenn du zu wenig Wasser getrunken hast, fällt es dir schwer, lange Phrasen zu singen. Denn dein Hals trocknet schnell aus und du musst husten.
- Wenn du während des Singens denkst, ein Ton ist dir nicht gelungen, klingt der nächste Ton ebenfalls wackelig. Denn du bist unkonzentriert.
- Wenn du Fieber hast, ist dein Energielevel niedrig und dein Körper dehydriert.
Was immer mit deinem Körper und in deinem Geist passiert, wirkt sich auf das Singen aus.
Deshalb ist es so wichtig, die richtige Handhabung der Stimme zu lernen. Gesang fordert dich mental und körperlich.
Während der Gesangsausbildung lernst du, dir gute Gewohnheiten anzutrainieren und alte abzulegen. Du lernst, deinen Körper und deinen Geist zu beherrschen.
Die innere Einstellung hilft dir
Wie bei jeder Tätigkeit gibt es auch beim Singen zwei Extreme: Überflieger und „Untalentierte“.
- Den „sehr talentierten“ Sängern fliegt scheinbar jeder Song zu. Sie müssen sich kaum anstrengen.
- Die, von denen man sagt, sie seien „talentfrei“ haben es schwerer. Sie müssen ein bisschen mehr Zeit und Kraft investieren.
Die „Untalentierten“ haben sich im Laufe ihre Lebens schlechte Gewohnheiten und Fehlhaltungen antrainiert, die schwer wieder loszuwerden sind. Sie haben vielleicht nie auf ihre Stimme geachtet, sind schonungslos mit ihr umgegangen. Oder haben sich nie getraut zu singen.
Wer singen können will, muss singen. Wer nicht singt, wird nicht besser. Du musst dir Fehler zugestehen. Sing immer einmal mehr, als du Fehler machst.
Wenn du wirklich singen willst, übst du bereitwillig an dir und deiner Stimme.
Der Schlüssel zum Gesangs-Erfolg
… ist deine Motivation.
Du musst den Wunsch haben, singen zu lernen.
Der Gesangslehrer sieht dich einmal in der Woche für 60 Minuten. Die restlichen 167 Stunden in der Woche bist du selbst verantwortlich für dein Instrument und für deine sängerische Entwicklung.
Verlass dich nicht darauf, dass der Lehrer dich mitzieht. Verlass dich nicht darauf, dass du außerhalb des Unterrichts nichts mehr tun musst. Denn mit dieser Einstellung kommst du nicht voran.
Ich habe Schüler, die mit nur wenigen Vorkenntnissen in einem Jahr gute Fortschritte erzielt haben. Was haben sie gemacht?
- Sie üben regelmäßig. Sie haben viel Spaß am Singen und investieren Zeit und Kraft, um darin besser zu werden.
- Sie tragen selbst die Verantwortung. Für jede Entscheidung, die sie treffen, stehen sie vor sich selbst gerade. Z.B. ob die Geburtstagsparty der Bekannten wichtiger ist als der Gesangsunterricht.
- Sie sind gierig nach Wissen. Sie haben erkannt, dass sie etwas nur verbessern können, wenn sie wissen, was falsch läuft. Außer diesem Wissen über ihr eigenes Singen eignen sie sich zudem Infos über die Stimme im Allgemeinen und das richtige Gesangstraining an.
- Sie bereiten sich während und nach dem Gesangsunterricht schon auf zukünftige Stunden vor. Z.B. machen sie sich Notizen im Unterricht oder fragen nach, wenn sie etwas nicht verstehen.
- Sie setzen sich Ziele, die sie konsequent verfolgen.
- Sie leisten immer ein bisschen mehr, als ich von ihnen verlange. Dank ihrer inneren Einstellung sind sie bereit, mehr zu tun.
Diese Schüler sind engagiert. Gesang steht ganz weit vorn auf ihrer Prioritätenliste. Singen ist ihre Leidenschaft – und das ist keine Floskel! Die Leidenschaft brennt lichterloh in ihnen. Diese Leidenschaft ist der Schlüssel zum Singen lernen.
Mit konkreten Zielen erreichst du mehr
Gesangsstunden nehmen nicht nur professionelle Sänger. Auch Hobbysänger gehen zum Gesangsunterricht. Alle verfolgen unterschiedliche Ziele.
In meiner Unterrichtsphilosophie sind alle Ziele gleich viel wert. Jedes einzelne ist erstrebenswert, denn sie motivieren den Sänger. Sie ermöglichen ihm Durchhaltekraft, um sich längere Zeit in eine bestimmte Richtung zu entwickeln.
Einige Beispiele aus meiner Unterrichtspraxis gefällig?
- eine Solorolle im Schul- oder Stadtmusical erhalten
- mal vor fremden Leuten auftreten
- nach einem Schlaganfall wieder mit Freude und Leichtigkeit singen können
- die Hochzeit eines Freundes musikalisch umrahmen
- die Intonation verbessern
Gerade diese vielfältigen Ziele machen Gesangsunterricht interessant. Deshalb hat in meinem Unterricht auch jeder Typ Sänger Platz. Ganz gleich auf welchem Kenntnisstand. Ganz egal mit welchen Zielen.
Der Meister fiel noch nie vom Himmel
In diesem Punkt unterscheidet sich Gesang von keiner anderen Kunst.
Wahres Können braucht Zeit. Auch Leonardo da Vinci musste zig Zeichnungen anfertigen, bevor er seinen Vitruvianischen Menschen zeichnete.
Die jahrelange Ausbildung kennst du sicherlich von klassischen Sängern. Doch auch Jazz-, Pop- und Rock-Sänger haben oft zahlreiche Gesangsstunden hinter sich, bevor sie ins Rampenlicht treten. Erfolg über Nacht ist höchst selten. Vor allem bedeutet es nicht, dass der „Wundersänger“ nicht schon viele Jahre zuhause geübt hat.
Beim Singen gibt es keine Abkürzung. Du kannst nichts erzwingen.
Gesangsunterricht ist keine Bühne
Wenn du jetzt Angst hast, als schlechter Sänger bezeichnet zu werden, kann ich dich beruhigen. Im Gesangsunterricht sind schräge Töne normal. Hässliche Töne gehören dazu. Sie sind Teil des Lernprozesses.
Wenn du diese komischen Klänge akzeptierst, machst du schneller Fortschritte. Du lernst, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf das Instrument, dass in dir schwingt. Darauf, das Beste aus dir herauszuholen.
Sylvia Lee vergleicht Singen lernen mit Fahrradfahren lernen. Auch ein sehr passender Vergleich! Jeder Anfänger eiert auf seinem Fahrrad durch die Straße. Erst nach und nach hält man das Gleichgewicht besser und fährt sicherer und schneller.
Update (6.12.2015): Gesangslehrer Thomas Melcher zieht den sehr treffenden Vergleich mit Laufen lernen. Er erklärt den Prozess des Singenlernens und verweist außerdem auf den Unterschied zwischen Laufen lernen und Singen lernen: Dass ein Kind immer ermutigt wird, laufen zu lernen, während es bei vokalen Äußerungen wie Singen und Rufen irgendwann ausgebremst wird. Dabei sollten wir alle jubeln, wenn unsere Mitmenschen ihre Stimmen erheben!
Update (25.07.2016): Ein sehr leidenschaftliches Plädoyer, dass Jeder singen kann und darf, liefert Ina Hagenau vom Stimmste?!-Blog. Ich stimme ihr aus ganzem Herzen zu.
Fazit
Gut singen zu können ist keine Frage des Talents. Jeder Mensch besitzt dieselben Voraussetzungen. Der wirkliche Unterschied ist deine innere Einstellung. Dann bist du auf dem richtigen Weg.
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